Institut für systemische Interaktionstherapie

 



Das SIT-Modell


Das SIT-Modell basiert auf folgenden, haltungsprägenden Grundannahmen:

  • Je stärker Eltern im Hilfeprozess beteiligt sind, umso wirkungsvoller und nachhaltiger ist die Hilfe für ihr Kind
  • Eltern wollen aktiv sein – sie wollen ihre Probleme und die Probleme ihres Kindes selbst angehen und lösen
  • Wenn Eltern im Hilfeprozess inaktiv sind, ist dies in erster Line durch Rollenzuweisungen im Hilfeprozess bedingt
  • Entscheidend für die Art einer eingesetzten Hilfe ist meist die fachliche Orientierung im Hilfesystem, weniger die Symptomatik der Familie
  • Das heisst, sehr viel mehr Eltern als bisher angenommen wären bereit, den Hilfeprozess für ihr Kind aktiv zu gestalten. Sie brauchen Angebote, die ihnen eine aktive Rolle einräumen


Auf Grund der oben genannten Thesen, ist es zu Beginn der SIT-Arbeit das vorrangige Ziel, Eltern zu ermöglichen, (wieder) aktiv zu werden.

Der Dreiphasenprozess

Der Dreiphasenprozess stellt eine grundlegende Struktur des Vorgehens in der Arbeit mit dem SIT-Modell dar, welcher die Eltern wieder in den Fokus rücken lässt. 

Bei der Strukturierung und Durchführung von Unterstützungs- bzw. Hilfemaßnahmen im Jugendhilfebereich finden sich in der Regel folgende Arbeitsschritte: 

  • Problembeschreibung 
  • Kontraktgestaltung 
  • Eigentlicher Unterstützungs- oder Hilfeprozess

Der Dreiphasenprozess bietet für jede dieser drei Komponenten eines Hilfeprozesses Handlungsoptionen an. 

Die drei Phasen im SIT-Modell sind:

1. Phase: Musterdiagnose und Musterarbeit

2. Phase: Arbeit mit Problemtrancen und Aufbau aktivierender Sprachmuster

3. Phase: Interaktionsinterventionen 


Phase 1: Musterdiagnose und Musterarbeit

Zu Beginn eines Hilfeprozesses wirken Eltern oft zu wenig aktiv, um an einer Veränderung der familiären Probleme zu arbeiten. Damit liegt aus der Perspektive des SIT-Modells die meist wirkungsvollste Unterstützungsmöglichkeit für die Kinder und Jugendlichen brach. Das erste Ziel der SIT-Arbeit ist es daher, Eltern zu ermöglichen, (wieder) aktiv zu werden, damit ihre enormen Ressourcen in den Hilfeprozess einfließen können. Hierzu dienen Arbeitsschritte, die im SIT-Modell Musterdiagnose/Musterarbeit genannt werden. Das systemische Erklärungsmodell bildet die theoretische Grundlage dieser Arbeitsphase. Die Inaktivität von Eltern wird nicht ihrer Persönlichkeit zugeschrieben, sondern als Rollenverhalten interpretiert, welches sie in einer bestimmten Rollenverteilung in der Interaktion mit professionellen Systemen (z. B. Kindergarten, Schule, Jugendämter, Hilfesysteme) übernommen haben. Daher werden die aktuell bestehenden deaktivierenden Rollenverteilungen und Beziehungsmuster zwischen den Eltern und professionellen Systemen und nicht die Klienten „diagnostiziert“. Nach dieser Musterdiagnose erfolgt die Musterarbeit, um die deaktivierenden Rollen von Helfern und Eltern schon zu Beginn der Hilfe zu verändern. Diese Musterarbeit ist sowohl eine Arbeit am Rollenverhalten der Fachleute als auch an dem der Eltern.

Die Musterdiagnose/arbeit erfolgt zu Beginn eines Hilfeprozesses weil bereits dann die Zuständigkeiten im Hilfeprozess ausgehandelt, die Rollen oft blitzschnell definiert werden und dann nur noch schwer veränderbar sind.  Die Kooperationsbeziehung stellt den Sollwert für diese Arbeitsphase dar. 

Wir unterscheiden im SIT-Modell fünf verschiedene Muster, die zwischen professionellen Systemen und den Familien auftreten können, wenn sie in Bezug auf Probleme des Kindes und/oder der Familie zusammenarbeiten. Diese Muster (und nicht die Klienten als Personen) werden als ausschlaggebend dafür angesehen, ob Eltern selbst einen Sinn darin sehen, aktiv an der Veränderung ihrer Probleme bzw. den Problemen des Kindes zu arbeiten oder nicht:

  • Kampfmuster (deaktivierend)
  • Abgabe-/Abnahmemuster (deaktivierend)
  • Scheinkooperation des Kampfmusters (teilweise deaktivierend)
  • Scheinkooperation des Abgabe-/Abnahmemusters (teilweise deaktivierend)
  • Kooperationsmuster (aktivierend)

In der Musterarbeit geht es vor allem darum, mit den Mustertrance-auslösenden Glaubenssätzen und den Persönlichkeitskonstruktionen und Rollenerwartungen der Beteiligten zu arbeiten, die die Kommunikation und Interaktion in den verschiedenen Mustern dominieren. 


Abgabe- /Abnahmemuster (im Folgenden Abgabemuster genannt): 

Ein Abgabemuster beginnt, wenn Eltern das Verhalten ihres Kindes oder gar das Kind selber als so problematisch empfinden, dass sie sich davon überfordert fühlen und die Zuständigkeit für die Erklärung und Bearbeitung der Probleme des Kindes an Fachpersonen abgeben wollen (Abgabe). Wenn die Fachpersonen die Grundannahmen der Eltern teilen, das Kind wäre problematisch, die Eltern seien davon überfordert, und eine Bearbeitung von Problemen mit dem Kind übernehmen (Abnnahme) komplettiert sich das Abgabe- /Abnahmemuster.

Im Abgabemuster sind die Eltern der Auffassung, dass ihr Kind problematisch „ist“ („madness or badness“). Sie fühlen sich selbst mit der Erziehung ihres vermeintlichen „Problemkindes“ überfordert und halten es daher für den besten Weg, die Bearbeitung der Probleme des Kindes an professionelle Fachkräfte zu übertragen. 

Nach dieser Einschätzung kann die Dynamik des Abgabemusters die Beziehungs- und Interaktionsmuster zwischen Klienten und Fachpersonen, in den Familien und auch zwischen verschiedenen Fachpersonen massgeblich gestalten. Dadurch können über Jahre hinweg Abhängigkeitsbeziehungen der betroffenen Familien zu Fachleuten geschaffen, und somit tiefgreifende, nachhaltige und positive Veränderungen bei den Klienten verhindert werden. Auch für das Abgabemuster wird angenommen, dass die eigentlichen Probleme des Kindes und oft auch der Eltern sich weitgehend und schnell verändern lassen, wenn es gelingt, aus dem Abgabemuster heraus in ein Kooperationsmuster zu gelangen.

Kampfmuster:

Ein Kampfmuster beginnt, wenn außerfamiliäre, professionelle Instanzen Probleme bei einem Kind / bei einer Familie lokalisieren und ansprechen (z.B.: „Ihr Sohn ist im Unterricht unkonzentriert und stört andere Schüler.“), die Familie selbst hingegen dieser Problemdefinition nicht zustimmt, sich demensprechend dagegen wehrt und Probleme eher bei den Problembeschreibern festmacht („Ich habe keine Probleme mit meinem Sohn, das muss am Lehrer liegen.“). Das Kampfmuster etabliert sich weiter, wenn diese Instanzen nun Druck auf die Familie ausüben, Einsicht zu zeigen bzw. eine Hilfe anzunehmen, und die Familie ihre Abwehr beibehält/verstärkt. Wenn das Kampfmuster eskaliert, setzen Fachpersonen gegen den Willen der Familie Unterstützungs- oder Hilfemaßnahmen ein und die Familie steigert dementsprechend ihre Abwehr.

Ein Kampfmuster stellt demnach eine Grundkontroverse zwischen Fachpersonen und Familie dar, die zu kämpferischen Interaktionsmustern führt. In dieser Abwehr gegenüber Problembeschreibungen und Hilfen zeigt sich der Gegensatz zum Agieren im Abgabemuster. Dort halten Eltern fachlich fundierte Problembeschreibungen und Hilfen für das Kind geradezu für die Lösung,  wünschen sich Hilfen bzw. fordern diese sogar ein. 

In Bezug auf die Probleme der Klienten im Kampfmuster wird angenommen, dass sie prinzipiell in einem hohen Ausmass und schnell veränderbar wären, wenn es gelingt, das Kampfmuster zu verlassen und ein Kooperationsmuster aufzubauen.

Scheinkooperationsmuster: 

In einer Scheinkooperation sagen die Eltern äußerlich Ja zu einer Hilfe, sind aber innerlich nicht am Hilfeprozess beteiligt – die wertvolle Energie geht in das „Mitmachen“ der Hilfe anstatt in die so wichtige Veränderung der Probleme. Obwohl sie sich auch als Varianten des Abgabe- bzw. des Kampfmusters verstehen lassen, weisen Scheinkooperationsmuster so viele Besonderheiten auf, dass sie eigenständig in Abgrenzung zum Kampf- und Abgabemuster gesehen und behandelt werden.

In der Arbeit nach dem SIT-Modell treten Scheinkooperationsmuster nicht unabhängig vom Kampf- oder Abgabemuster auf. Sie stellen vielmehr komplexere Varianten beider Muster dar. Ebenso wie das Kampf- und das Abgabemuster werden auch Scheinkooperationsmuster als zentraler Faktor gesehen, der eine aktive Veränderungsarbeit von Eltern in Hilfeprozessen verhindert, und damit auch als eine wesentliche Ursache, wenn sich die Probleme von Kindern/Jugendlichen in Unterstützungs- und Hilfemaßnahmen nicht deutlich bessern.

Kooperationsmuster: 

In einer Kooperationsbeziehung fühlen die Eltern sich (wieder) selbst zuständig, so an den Problemen ihres Kindes bzw. an den eigenen Problemen zu arbeiten, dass positive Veränderungen auftreten. Hier besteht die Kooperation im Unterschied zu Scheinkooperationsmustern nicht im „Mitmachen“ (Angebotslogik), sondern im „selbst Verändern“ (Veränderungslogik). Die Rolle der Fachpersonen in dieser Form der Kooperation ist es, die Eltern dabei zu unterstützen herauszufinden, „wie“ sie selbst ihre bzw. die Probleme ihres Kindes verändern können.


Phase 2: Arbeit mit Problemtrancen und Aufbau aktivierender Sprachmuster

Wenn Eltern nach gelungener Musterarbeit wirklich an Veränderungen arbeiten wollen, haben sie oft noch Annahmen und Bilder über bestimmte Probleme, die dazu führen, dass sie denken, dass Veränderung nicht möglich ist, selbst wenn sie diese wollen. 

Die Begriffe, mit denen Eltern die Probleme ihrer Kinder beschreiben und die mit diesen Begriffen verbundenen Erklärungsmodelle für das kindliche Verhalten, haben starke Auswirkungen darauf, ob Eltern sich in Bezug auf diese Probleme zuständig und kompetent fühlen. Zeigen Kinder problematisches Verhalten, fühlen sich Eltern selbstverständlich meist zuständig, auf dieses Verhalten einzuwirken. Verwenden sie jedoch bestimmte Begriffe(hyperaktiv, ADHS, geringe Affektkontrolle, geringe Frustrationstoleranz...) und die damit verbundenen Interpretationen des problematischen Verhaltens ihrer Kinder hat dies bei ihnen oft die Wirkung, einen aus der Sicht des SIT-Modells tranceähnlichen Zustand der Hilflosigkeit auszulösen. Dieser Zustand wird im SIT-Modell Problemtrance genannt. In einer Problemtrance erleben alle Beteiligten die Probleme als schwerwiegend und in komplexen inneren Prozessen des Kindes verwurzelt. Dementsprechend fühlen sich Eltern häufig damit überfordert, etwas an diesen Problemen zu ändern. 

In der Arbeit mit Problemtrancen geht es zunächst darum, 

  • deaktivierende Problembeschreibungen (z. B. „Schulverweigerer“) zu erkennen, 
  • sie in Verhaltensbeschreibungen zu transformieren: „Wenn ich ihn morgens aufwecke, zieht er sich die Decke über den Kopf und bleibt liegen.“
  • und sie dann in positive Gegenbilder zu übersetzen: „Ich möchte erreichen, dass er morgens wieder aufsteht und in die Schule geht.“ 

Die positiven Gegenbilder lassen sich als Zielbilder verstehen. Sie beschreiben das angestrebte Verhalten der Kinder oder der Eltern, das Auftreten müsste, damit die Probleme als gelöst zu betrachten sind: „Ich erreiche, dass er jeden Morgen aufsteht, in die Schule geht und bis zum Unterrichtsende bleibt.

 Positive Gegenbilder sind wie eine „Gegentrance“ zu verstehen und haben motivierende, stimulierende Wirkung auf die Eltern und lassen sie wieder daran glauben, dass Veränderung möglich ist.

Die Eltern stellen dann die wichtigsten Gegenbilder (Zielbilder) in Form von Zielplakaten zusammen. Diese bilden den „roten Faden“  des Hilfeprozesses. Die Problemtrance-Arbeit ist allerdings nicht nur zu Beginn des Prozesses notwendig. Stagnationen im Hilfeprozess korrespondieren fast immer mit einem Rückfall in alte Problemtrance-erzeugende Bilder und Erklärungsmodelle, sodass diese Arbeit während des gesamten Hilfeprozesses ein wichtiges Thema bleibt. Die Erarbeitung situativer für die Klienten wirklich vorstellbarer positiver Gegenbilder sind der Sollwert dieser Arbeitsphase. Erst nachdem dieser erreicht wurde, wird zur dritten Phase gewechselt.


Phase 3: Interaktionsinterventionen

In dieser Phase suchen und entwickeln die Eltern neue eigene Verhaltensweisen mit denen sie die alltäglichen Problemsituationen zwischen ihnen und den Kindern verändern können. In diesen alltäglich ablaufenden Interaktionssequenzen, die zwischen Eltern und Kindern stattfinden, wird im SIT-Modell ein wesentlicher Hintergrund dafür gesehen, dass die Kinder überhaupt Probleme

aufweisen. Wenn sie misslingen, geraten die Kinder immer wieder in die Rolle eines Problemträgers und die Eltern in die Rolle überforderter oder gefährdender Eltern.

So werden nach der Muster- und der Problemtrancearbeit in einem weiteren Schritt die Interaktionssequenzen im Alltag herausgefiltert, in denen Probleme erzeugt oder aufrechterhalten werden. Anschliessend wird die Familie dabei unterstützt, diese Interaktionsmuster zu verändern. Dabei hat es sich als wenig ergiebig gezeigt, wenn über diese Situationen geredet wird. Daher erfolgt eine Unterstützung bei der Veränderung problemerzeugender situativer Interaktionsmuster vor allem durch Vorgehensweisen, in denen direkt agiert wird, wie strukturierte Rollenspiele, Video-Feedbacks oder Live-Coachings. Im Verlauf dieser dritten Phase der Zusammenarbeit erarbeiten Berater und Eltern gemeinsam neue, auf die jeweilige Konstellation einer Familie passende Verhaltens- und Denkmuster.